Kein Frieden mit Deutschland! Demonstration gegen Nation, Rassismus und Kapitalismus am 03.10.2007

Anfang der 1990er Jahre schwelgte die deutsche Nation im Jubel über die so genannte „Wende“. Der 3. Oktober steht dabei als Symbol für die Wiedererlangung nationaler Souveränität nach dem Wegfall letzter alliierter Restriktionen. Zugleich weist er als institutionalisiertes Feiertag
sritual auf das sich seit der so genannten „Wiedervereinigung“ abzeichnende gesellschaftliche Projekt hin: Die gemeinsame nationale Formierung einer kapitalistisch zu organisierenden Gesellschaft, die ohne Rassismus als Merkmal der Identitätsstiftung nicht auskommen konnte und kann. Dabei brach sich eine bislang unter der Oberfläche schwelende und nur mühsam zurückgehaltene nationalistische Grundstimmung bahn, die von den gesellschaftlichen Eliten gleichermaßen gefördert und instrumentalisiert wurde – im Einklang mit und selten gegen die Interessen der deutschen Mehrheitsbevölkerung, deren Individuen bereitwillig im völkischen Kollektiv aufgingen. In Mannheim zeigte sich diese Entwicklung im Jahr 1992 an den pogromartigen Ausschreitungen im Stadtteil Schönau.

Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ermöglichte eine Rückbesinnung auf die Nation, welche zwar in den 1980er Jahren schon angestrebt, jedoch durch die Blockkonfrontation erheblich gehemmt wurde. Der Zusammenbruch der selbsternannten sozialistischen Länder wurde schließlich als Chance verstanden, sich als rehabilitierte Nation endgültig vom „Dritten Reich“ abzugrenzen und dadurch wieder internationalen Führungsanspruch in Politik und Wirtschaft zu rechtfertigen. Nach dem Ende der Ära Kohl 1998 wurde der bisherige „Makel Auschwitz“ von der rot-grünen „Alt-68er“ Regierung nicht nur abgeschüttelt, sondern vielmehr als ideologisches Kapital in Wert gesetzt. Entgegen der bisherigen Politik zum Umgang mit dem Holocaust (1), die von Abwehr und Relativierung gekennzeichnet war, erkennt man heute Schuld explizit an, leitet daraus als geläuterte Nation einen Erfahrungsvorsprung und besondere Demokratiefähigkeit ab und löst Schuld im allgemeinen anthropologischen Brei von Leid auf. Die vermeintlich erfolgreiche „Aufarbeitung“ (2) der Vergangenheit wird zum nationalen Identitätsgenerator. Wenn heute Kriege geführt werden, dann eben gerade weil man aus der Geschichte gelernt haben will und sich seiner Verantwortung bewusst ist. Es wird nicht trotz, sondern wegen Auschwitz gebombt. Heute setzt Deutschland seine Interessen überall auf der Welt auch militärisch durch, denkt über internationale Eingreiftruppen nach und treibt den Aufbau einer EU-Armee voran. Wirtschaftlich, militärisch und auch ideologisch spielt Deutschland heute wieder “ganz oben” mit.

Das Anerkennen der deutschen Schuld und die Verantwortungsübernahme für die Verbrechen des Nationalsozialismus ermöglicht es Deutschland seit Rot-Grün jedoch auch, verstärkt auf den eigenen, vermeintlichen Opferstatus hinzuweisen und somit eine Relativierung der Shoah durch die Hintertür zu erreichen. Der Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen werden so zur europäischen Tragödie umgedeutet, die in Deutschland wie in Europa TäterInnen und Opfer zugleich „hervorbrachte“. Mit Verweis auf die Bombenabwürfe auf deutsche Städte oder die „Vertreibung“ Deutscher aus Osteuropa wird Schuld europäisiert und die Anerkennung der Singularität der nationalsozialistischen Barbarei verkommt zum bloßen Lippenbekenntnis.

Das Pogrom von Mannheim-Schönau

Nach dem Mauerfall 1989 sowie während und nach der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer ein Jahr später fand die ideologische Neuformierung der „Nation“ ihren konkreten Ausdruck in der Welle pogromartiger Ausschreitungen gegen Flüchtlingsunterkünfte. Wiedergespiegelt wurde sie in den aufkommenden medialen Diskursen zur faktischen Abschaffung des Asylrechts und der Gesetzgebung zur vermeintlich durch “Ausländer” begangenen organisierten Kriminalität.

Die am meisten Aufsehen erregenden Pogrome dieser Zeit in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen sind bis heute zumindest teilweise in Erinnerung geblieben. Die zahllosen weiteren Anschläge, insbesondere nach der Asylgesetzänderung, fanden dagegen kaum noch öffentliche Beachtung. Ihr Zweck, diese zu legitimieren, war hinfällig geworden. Empörung über oder Ablehnung der rassistischen Gewalt fand sich höchstens im Zusammenhang mit der Sorge um das Ansehen Deutschlands in der Welt.

Die Pogrome von Mannheim-Schönau standen in einer Reihe mit diesen rassistischen Gewalttaten. Jedoch waren es in Mannheim – anders als beispielsweise in Hoyerswerda – nicht nur organisierte Nazis, die die Angriffe auf Flüchtlinge initiierten. Erstmals nach 1945 gingen Ausschreitungen von „ganz gewöhnlichen Deutschen“ aus, die „ihren“ Stadtteil mit Gewalt gegen jene Menschen „verteidigen“ wollten, die sie als außerhalb ihrer wieder entdeckten nationalen Gemeinschaft halluzinierten.

In der Nacht zum 26. Mai 1992 rottete sich der Schönauer Mob zum ersten Mal vor der AsylbewerberInnenunterkunft in der ehemaligen Gendarmeriekaserne zusammen. Das Gerücht, einer der Bewohner habe eine junge Frau vergewaltigt, lieferte den Vorwand zur offenen Aggression. Proteste gegen die Einrichtung der Unterkunft hatte es in Form offener Briefe bereits vorher gegeben. Das Vergewaltigungsgerücht und die Reaktion darauf waren die Selbsterfüllung der Prophezeiung, eine solche Unterkunft mache nur Ärger. Etwa 150 zum Teil bewaffnete Personen pöbelten vor der Unterkunft, um den vermeintlichen Vergewaltiger zu stellen. Bemerkenswert ist die plötzliche Vehemenz, mit der sich ein Mob deutscher Männer für die Belange einer vergewaltigten Frau einsetzte; ein ansonsten in der patriarchalen Mehrheitsgesellschaft selten zu beobachtendes Phänomen. Offensichtlich ging es nicht um den Schutz der Frau vor sexualisierter, männlicher Gewalt, sondern um den Schutz einer „Deutschen“ vor einem „Asylanten“. Das Gerücht wurde öffentlich dementiert, als Täter wurde der Lebensgefährte der Frau ermittelt. Der Angst vor dem vermeintlichen kriminellen Potential der jungen Männer aus der Unterkunft allerdings zollte man mit dem Versprechen Tribut, zukünftig mehr Familien mit Kindern einzuquartieren. Diese Reproduktion des Vorurteils seitens der Stadtverantwortlichen bedeutete eine indirekte Solidarisierung mit dem deutschen Mob, der seinen Stadtteil mit der Vertreibung der Asylsuchenden, auch mit Gewalt, vor „Verfall“ retten wollte.

Nach einem Vatertagsfest am 28. Mai 1992 versammelten sich die SchönauerInnen erneut vor dem Kasernengebäude. Diesmal kamen zeitweise 400 Personen dort zusammen, die rassistische Parolen skandierten und Fensterscheiben der Unterkunft einwarfen. Der damalige Oberbürgermeister Gerhard Widder trat beschwichtigend und verständnisvoll mit der rassistischen Menge in Dialog. In einem Brief an die „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger auf der Schönau“ zeigte Widder Verständnis für deren Situation und kündigte verstärkte Sicherheitsmaßnahmen an: Maßnahmen, welche die Sicherheit der SchönauerInnen vor den AsylbewerberInnen garantieren sollten. Bis zum 2. Juni 1992 nahmen die Belagerungen vor der Gendarmeriekaserne kein Ende. Von der Polizei mehr oder weniger unbehelligt, konnte immer wieder Gewalt von der Menge ausgehen.

Von den Medien und der Polizei wurden diese Zustände heruntergespielt. Die politische Brisanz wurde den Geschehnissen fast gänzlich abgesprochen. Zur Erklärung und Rechtfertigung der Ausschreitungen wurde die Trunkenheit der AngreiferInnen genannt, im Zuge derer es üblicherweise zu gewaltsamen Konfliktlösungsstrategien käme. Anlass zur Eskalation sollten die BewohnerInnen der Sammelunterkunft durch Provokation selbst geliefert haben. Dieses Erklärungsmuster leugnete die rassistische Motivation der Ausschreitungen und den Zusammenhang mit den Geschehnissen in Hoyerswerda und anderswo. Insbesondere die lokale Tageszeitung Mannheimer Morgen glänzte dabei durch politische Blindheit und Desinteresse, die Ausschreitungen als Ausdruck einer rassistischen Stimmungslage in der Bevölkerung anzuerkennen.

Mittlerweile hatten antifaschistische und antirassistische Gruppen versucht, Widerstand gegen die rassistische Gewalt zu organisieren und Solidarität mit den BewohnerInnen der Unterkunft zu zeigen. Es kam zu Auseinandersetzungen mit SchönauerInnen und der Polizei. Antifas wurden von der Polizei weit weniger nachsichtig behandelt als die rassistischen RandaliererInnen. Damit war der eigentliche Gefahrenfaktor gefunden: Besonders den so genannten „auswärtigen“ (Mannheimer Morgen) Antifa-Gruppen wurde von Stadt, Polizei und Presse sinnlose Gewaltbereitschaft unterstellt. Sie galten als eine Bedrohung für die Stadt, welche es wiederum repressiv abzuwenden gelte.

Geplante antirassistische Demos wurden vorab verboten. Dennoch versammelten sich am 06. Juni 300-400 Personen zu einer Demonstration in der Mannheimer Innenstadt. Die Versammlung wurde von Einsatzkräften der Polizei gewaltsam aufgelöst.
Der Mannheimer Morgen faselte von „gewaltbereiten linken Chaoten“, die aus dem gesamten Bundesgebiet gekommen wären, um die Stadt zu zerstören. Das halluzinierte Szenario sollte den brutalen Polizeieinsatz in der Öffentlichkeit rechtfertigen.
Dem Treiben des rassistischen Volksmobs wurde von offizieller Seite letztlich also nicht mit einer politischen Auseinandersetzung im Sinne einer Solidarisierung mit den Asylsuchenden begegnet, sondern in Form polizeilichen Eingreifens gegen AntirassistInnen. (3)

Die Welle der Pogrome, für die Mannheim-Schönau exemplarisch steht, ist der sichtbare Teil einer Entwicklung, für die der 3. Oktober das Symbol darstellt. Der Tag der „Wiedervereinigung“ bedeutete in zweifacher Hinsicht eine Zäsur: Zum einen steht er für die Wiedererlangung voller nationaler Souveränität, zum anderen für das Ende der „Systemkonkurrenz“ und den vermeintlichen Sieg des Kapitalismus.

Fluchtpunkt der Prozesse Anfang der 1990er Jahre war die nationale Vereinigung einer kapitalistischen Gesellschaft; eine Entwicklung, die insbesondere dazu diente, die sozialen Verwerfungen, die die sozioökonomische Umwälzung mit sich brachte, aufzufangen und die Wiedererlangung einer deutschen Vormachtstellung zunächst in Europa durch das Abstreifen letzter Restriktionen und halluzinierter Hindernisse, insbesondere des Asylrechts, vorzubereiten. Die Niederlage des so genannten „real existierenden Sozialismus“ führte zum globalen Triumphzug des kapitalistischen Modells und besiegelte dessen scheinbare Alternativlosigkeit. Radikale Kritik, die in aktuellen sozialen Kämpfen auf’s Ganze geht und eine gesellschaftliche Verfasstheit jenseits von Staat, Nation und Kapital fordert, ist im öffentlichen Diskurs kaum mehr wahrnehmbar. Reformistische Forderungen werden meist zu recht als unrealistisch abgetan. Daher gilt es gerade am 3. Oktober gegen das „Ende der Geschichte“ zu protestieren und auf eine vernünftige Einrichtung der Welt im Sinne einer Assoziation freier Individuen fernab von Nation und Kapital zu bestehen.

Kapitalismus, Klasse und Staat

Kapitalistische Gesellschaften konstituieren sich stets durch Privateigentum an den Produktionsmitteln, durch Lohnarbeit, Privatproduktion und Konkurrenz. Die BesitzerInnen der Produktionsmittel, die KapitalistInnen, produzieren Waren, um diese verkaufen zu können. Ein Großteil der Menschen ist lohnabhängig, verfügt also über keine Produktionsmittel und ist somit gezwungen seine Arbeitskraft zu verkaufen, um sein Überleben sichern zu können. Der Kapitalist kauft Arbeitskraft von den Lohnabhängigen, um produzieren zu können, er stellt die zur Produktion nötigen Mittel zur Verfügung und versucht einen Wert zu schaffen, der über dem Preis der Arbeitskraft und der Herstellungskosten liegt, den so genannten Mehrwert. Nach dem Verkauf dieser Waren, also dem Tausch in Geld, erhält der Kapitalist seinen Profit. Diesen kann er aber nur in begrenztem Maße in persönlichen Konsum fließen lassen, da er stets in Konkurrenz mit anderen KapitalistInnen steht und einen Großteil des Profits in neue Maschinen, Rohstoffe und weiterhin in Arbeitskräfte investieren muss, um im Konkurrenzkampf nicht unterzugehen. Das Erwirtschaftete fließt so zu großen Teilen stets wieder in die Produktion zurück, wodurch der nicht endende Kreislauf der Kapitalakkumulation entsteht. Die Kapitalakkumulation wird somit zum Selbstzweck. Die kapitalistische Produktion richtet sich an keinem vernünftigen Zweck aus, nämlich ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Hier muss ansetzen, wer erkennen will, warum noch immer massenweise Menschen trotz des gigantischen globalen Reichtums an Hunger oder unzureichender medizinischer Versorgung sterben. Es ist nicht der Verdienst einzelner „bösartiger“ KapitalistInnen, die sich besonders gierig und unsozial verhalten, sondern der normale Gang des Kapitalismus.

Kapitalistische Gesellschaften sind strukturell immer auch in Klassen gespaltene Gesellschaften. Die jeweilige Zugehörigkeit bestimmt sich durch die Position im Produktionsprozess. Auf der einen Seite stehen also die, die über Kapital verfügen und die Ausbeutung (4) der Arbeitskraft organisieren und auf der anderen Seite jene, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. In Kämpfen zwischen den Klassen, beispielsweise um die Länge des Arbeitstages, die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung der Arbeitskraft, entscheidet, da der Staat gleiches Recht garantiert, die Gewalt, also die Durchsetzungsfähigkeit der jeweiligen Seite. Da das Kapital zwecks Profitmaximierung und getrieben vom „Stachel der Konkurrenz“ (Marx) stets probieren wird, die Löhne möglichst gering zu halten und die ArbeiterInnen stets probieren werden, möglichst hohe Ansprüche durchzusetzen, sind kapitalistische Gesellschaften auch immer konflikthafte Gesellschaften.

Oftmals wird der Staat als der unparteiische Dritte, oder als eine der Gesellschaft gegenüberstehende neutrale Instanz angesehen. Das ist allerdings nicht mal die halbe Wahrheit: Zum einen dient der Staat dazu, gesellschaftliche Konflikte in politisch regulierte beziehungsweise regulierbare Bahnen zu lenken, also das Feld zu bereiten, auf dem Konflikte innerhalb festgesetzter Spielregeln ausgetragen werden können. Zum anderen kommt dem Staat die Aufgabe zu, durch die Ausübung seines Gewaltmonopols zu gewährleisten, dass sich die Mitglieder der Gesellschaft als Privateigentümer zueinander verhalten. Entscheidend dafür ist die Gewährleistung von Privatbesitz und bürgerlichen Rechten, also der Schutz von Besitz und Rechten. Hier behandelt der Staat (im Gegensatz zu feudalistischen Gesellschaften) im bürgerlichen Sinne tatsächlich „alle gleich“, ob nun LohnabhängigeR oder KapitalistIn. In kapitalistischen Gesellschaften fallen politische und ökonomische Herrschaft auseinander, woraus folgt, dass zwar weiterhin ein Zwang zur Arbeit besteht, das konkrete Arbeitsverhältnis allerdings „freiwillig“ eingegangen wird, sich also die Abhängigkeit von einem bestimmten Feudalherren im allgemeinen Zwang, seine Arbeitskraft an irgendeineN KapitalistIn zu verkaufen, auflöst. Der Lohnabhängige ist in diesem Sinne ein „doppelt freier Arbeiter“ (Marx). Zum einen frei, Verträge zu schließen, aber auch frei von Produktionsmitteln, was den Zwang mit sich bringt, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Durch den Schutz des Privateigentums vor Vergesellschaftung wird für einen Großteil der Menschen der Zwang erzeugt, seine Arbeitskraft zu verkaufen.

Der Staat agiert als „ideeller Gesamtkapitalist“ (Engels) und bringt die widerstreitenden Interessen der einzelnen Kapitale, deren Verhältnis zueinander durch Konkurrenz bestimmt ist, auf einen Nenner. Dabei sorgt sich der Staat um die Optimierung der Möglichkeiten zur Kapitalakkumulation. Hierfür bestehen für den Staat zwei strukturelle Gründe. Zum einen die Abhängigkeit von Steuereinnahmen, um seinen Apparat zu finanzieren und Handlungsfähigkeit zu bewahren, zum anderen die Konkurrenz zwischen den Staaten, die sich als Standorte gegenüberstehen. Die Besonderung des Staates gegenüber den einzelnen Kapitalen und den als Rechtssubjekte individualisierten StaatsbürgerInnen ist es, die den Schein des Neutralen aufrechterhält. Nur so ist es möglich, über Klassengegensatz und Konkurrenz hinweg, eine umfassende Politik des Kapitals durchzusetzen.

Die Nation und der Standort

Diese Aufgaben kann der kapitalistische Staat am effektivsten erfüllen, wenn und insofern er sich als Nationalstaat konstituiert. Dabei bezieht er sich neben einem beanspruchten Territorium auf ein durch vermeintlich naturgegebene, tatsächlich aber sozial konstruierte und geschichtlich homogenisierte Gemeinsamkeiten bestimmtes „Volk“.

Während Menschen durch das Kapitalverhältnis in antagonistische Klassen und Gruppen gespalten und durch den Staat als Marktindividuen und Rechtssubjekte vereinzelt werden, ist es die Nation, die die Widersprüche zu glätten und einzuebnen sucht. Sie ist der Kitt, der das Auseinanderreißen der Gesellschaft durch soziale Gegensätze verhindert und identitätsstiftend wirkt. Im nationalen Brei sind alle, ob nun Bonze oder Hartz-IV-EmpfängerIn, ob ArbeiterIn oder KapitalistIn gleichermaßen Deutsche. Die nationale Identität gründet sich stets auch auf die Bestimmung des Anderen, Nicht-Dazugehörigen. Somit ist Nation, gleich ob bunt, pazifistisch oder modern, ohne Ausschluss, Diskriminierung und Rassismus nicht zu haben; denn wie der Patriot den „Vaterlandsverräter“, braucht der Deutsche den Ausländer. Aus der Konstruktion des Gemeinsamen, die in Deutschland ganz besonders ekelhaft durch die Ideologie von Blut und Boden geschieht, wird es möglich, ein allgemeines klassenübergreifendes Interesse zu suggerieren. Dieses Allgemeininteresse ist es, an dem sich zu orientieren gefordert wird. So ist es möglich, von Menschen wie Gruppen zu erwarten, ihre jeweiligen Interessen am Allgemeinwohl auszurichten, da ja alle im selben Boot sitzen. War es früher die Pflichterfüllung im Krieg fürs Vaterland, ist es heute das Engerschnallen des Gürtels für den Standort, dem es im globalen Wettbewerb beizustehen gilt. Dem Standort soll es gut gehen, damit es allen gut geht, lautet die Losung, denn nur wenn dieser für den Kapitalmarkt attraktiv genug ist, lassen sich Arbeitsplätze erhalten und neue schaffen und so die Leben aller – die es verdienen – verbessern. Mit dem Wohl des Standortes finden Sozialabbau, Lohnsenkungen, Studiengebühren und der Abbau von Bürgerrechten ihre ideologische Legitimation. Bleibt der gewünschte Erfolg aus, wird dies mit Verweis auf mangelnde Konsequenz in der Umsetzung erklärt und die Spirale weiter nach unten gedreht.

Hieran zeigt sich auch der Unsinn der Versuche aus der „reformistischen Linken“, die besseren oder sozialeren Vorschläge für das Wohl des Standorts zu machen und an Sozialpartnerschaft und Sozialstaat festzuhalten. Aufgabe der Radikalen Linken kann es nicht sein, sich den Kopf des Kapitals zu zerbrechen, sondern die Abschaffung des Kapitalismus voranzutreiben und sich nicht von der Nation dumm machen zu lassen, sondern jeder Sinnstiftung durch Volk, Nation und Standort eine klare Absage zu erteilen.

Bleibt die Frage: Warum ist ausgerechnet der 3. Oktober als spezifisch deutsches Symbol nationalstaatlich-kapitalistischer Vergesellschaftung unser Angriffspunkt, warum gilt es, gerade Deutschland als Sonderfall herauszustellen und anzugreifen? Anders ausgedrückt: Warum wird namentlich in Deutschland ekelhaft, was überall widerwärtig ist? Es gilt als Radikale Linke hierzulande, die spezifische Geschichte deutscher Nationwerdung und ihre strukturelle Besonderheit zu analysieren.

Entstanden aus der Delegitimierung der Feudalherrschaft und des ancien regime im Zuge der Veränderung der vorrangigen Produktionsweise und den sich damit verändernden Machtverhältnissen zwischen den Menschen, entwickelten sich aus der Aufklärung und mit dem entstandenen Bürgertum neu legitimierte Herrschaftsformen. Entsprechend seines Einflusses auf Politik und wirtschaftlicher Entwicklung forderte das Bürgertum seine Beteiligung an Macht und Herrschaft und eine gewisse vertraglich (also konstitutionell) festgelegte Freiheit. Diese bürgerliche Freiheit entließ die Menschen aus direkten persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen und schuf neue, verschleierte und effektivere.

Auch wenn diese Entwicklung überall durch scheinbar gleiche Ideologien gestützt wurde, konstituierte sich die deutsche Nation im Vergleich mit anderen auf eine Weise, die in letzter Konsequenz einen Unterschied um’s Ganze ausmachte – den Unterschied zwischen Barbarei und Verteidigung der bürgerlichen Werte der Aufklärung. Die dialektische Besonderheit liegt in der Tatsache, dass der Zustand der Barbarei in der Idee der Nation zwar immer schon angelegt ist und dennoch nur in der historischen Sonderform der deutschen Entwicklung dieser Idee ihren Ausdruck finden konnte. Es gilt also, die Nation als Idee und Verhältnis zu delegitimieren, und damit bei ihrer ekelhaftesten Ausdrucksweise zu beginnen – namentlich der deutschen.

Eroberte und verteidigte nämlich in Frankreich, England und den USA das Bürgertum in revolutionären Kämpfen seine politische Macht unter dem Banner der Menschen- und Bürgerrechte, so entwickelte es sich in Deutschland als Nationalbourgeoisie, mehr oder weniger abhängig von der Gnade der feudalen Autorität. Dabei wurden eben diese Menschen- und Bürgerrechte eingetauscht für die obrigkeitsstaatliche Protektion der nationalen ökonomischen Interessen. Zwar vergaß die einmal zur Macht gekommene Bourgeoisie auch in den revolutionären Nationen ihre freiheitlichen Forderungen oft allzuschnell; nunmehr als Idee in der Welt konnten sie aber von anderen Gruppen, z.B. der Arbeiterbewegung, aufgegriffen und eingefordert oder gegen die neuen Herrscher gewendet werden.

Diese liberale Tradition ist in Deutschland nicht zu finden. Entsprechend reaktionär und antirevolutionär verlief dann auch die Einigung der vielen deutschen Kleinstaaten, die im Zuge der Entwicklung eines kapitalistischen Marktes und der Expansionsinteressen der deutschen Bourgeoisie unumgänglich geworden war. Eine starke konservative Bewegung, dem feudalen Ständesystem verhaftet und entschlossen, alte Werte und Ideale gegen die “unmoralischen” und “zersetzenden” der Moderne zu verteidigen und zu erhalten, bestimmte den Prozess der Reichsgründung 1871. Diese konservativen und nationalliberalen Kreise konstruierten die deutsche (Bluts-)Nation. Diskurse wie der Antisemitismusstreit zwischen Treitschke und Mommsen, die Entstehung der Turnerschaften und Studentenverbindungen und mit ihnen der Beginn der Völkischen Bewegung bestimmten das Bild der entstehenden deutschen Nation. Die Berufung auf eine angebliche Abstammung der „Deutschen“ von den Germanen und Hermann dem Cherusker, die antisemitische, antimoderne und antislawische Identitätskonstruktion und die Schwäche fortschrittlicher liberaler Gedanken war ihre Grundlage. Beispielsweise nutzte die Regierung Bismarcks antislawische und antisemitische Proteste und wies 1885/86 35.000 PolInnen und JüdInnen aus Deutschland aus. Mit der Geltung des Blutrechts und der Möglichkeit der Aberkennung der Staatsbürgerschaft war die Ausgrenzung oder Ausweisung von Gruppen oder Personen einfach möglich. Vor allem auch gegen die schon seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland lebenden Sinti und gegen die einwandernden Roma richtete sich der Rassismus der damaligen Zeit. Hier wurde erstmals angewandt, was später unter den Nazis die bestimmende Vorgehensweise wurde. Die „physiognomische“ Bestimmung einer „menschlichen Rasse“. Die deutsche Nation ist nicht rational vertragstheoretisch legitimiert, von einer „freiwilligen“ Unterordnung unter einen allgemeingültigen, von mündigen Subjekten ausgehandelten Gesellschaftsvertrag, deren Handeln die Nation erst hervorbringt, kann hier keine Rede sein. Ist die französische Staatsbürgerschaft legitimiert über das Leben auf französischem Staatsgebiet und die Anerkennung der aus diesem Vertrag hervorgehenden Rechte und Pflichten der StaatsbürgerInnen, so ist in Deutschland die Abstammung die relevante Kategorie. Damit konstituierte sich der moderne Verfassungsstaat in Deutschland aus den exklusiven Mitgliedern der „Volksgemeinschaft“, die im nächsten Schritt zur „Herrenrasse“ erhoben wurde.

„Wo andere die universellen Menschenrechte und die bürgerlichen Freiheiten zu den Leitbildern der Moderne erhoben, turnten die Deutschen unter der Anleitung von Friedrich Ludwig Jahn um ihre Volkseiche.“ (5).

Eben diese, für die deutsche Nation grundlegende Konstruktion von angeblich „natürlichem“ und „verwurzeltem“ Guten gegenüber losem, kalten und unbeständigen Schlechten, ist ein Kontinuum, welches in den unterschiedlichsten Ausdrücken immer wieder erscheint.

Die Geschichte der deutschen Nation birgt keine Anknüpfungspunkte für gesellschaftliche Emanzipation. Nur die radikale Negation dieser deutschen Zustände eröffnet eine Perspektive für die Bestimmung vernünftiger Zwecke.
Eine Emanzipation des Individuums kann nur gegen Nation und Kapital gedacht werden.

Darum: Heraus gegen den 3. Oktober!

Kein Frieden mit Deutschland!
Für die soziale Revolution!

AK Antifa Mannheim im August 2007

(1) Des problematischen Umgangs mit der Bedeutung des Begriffes „Holocaust“ sind wir uns bewusst. Wir verwenden ihn hier dennoch, da er uns als geeignet erscheint, alle Opfergruppen des Nationalsozialismus mit einzubeziehen.

(2) Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff findet sich in: Adorno, Theodor W.: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 10.2. Frankfurt 1977. S.555-572.

(3) Eine ausführliche Dokumentation des Schönauer Pogroms findet sich in der Broschüre „Schönau nicht vergessen“, bei uns zu bestellen unter: akantifa@juz-mannheim.de

(4) Unter „Ausbeutung“ werden hier nicht besonders niedrige Löhne oder die Versklavung der Arbeitenden verstanden, sondern, im Marxschen Sinne, der Sachverhalt, dass die ProduzentInnen lediglich einen Teil des von ihnen produzierten Wertes als Lohn erhalten.

(5) Aly, Götz: Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen. Fischer, Frankfurt am Main, 2003. S.10

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